Krise in Island: Einmal über alles reden

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Was macht ein kleines Volk in einer großen Krise? Es setzt sich an einen Tisch. So geschehen am vergangenen Wochenende in Island von Alva Gehrmann

DIE ZEIT Nº 48/2009 19. November 2009 18:27 Uhr 2 Kommentare

 

Am Tisch A41 des großen Treffens in Reykjavik: der Autor, Umweltaktivist und vierfacher Vater Andri Snær Magnason (zweiter von links)

Am Samstag fand in Reykjavík ein weltweit vielleicht einzigartiges Experiment statt: das Þjóðfundur, ein »Treffen der Nation«. Dazu eingeladen waren 1200 zufällig aus dem Nationalregister ausgewählte Isländer, die einen Querschnitt der Bevölkerung bilden
– die jüngste Teilnehmerin war 17, der älteste 88. Außerdem noch 300 Mitglieder von Arbeiterbewegungen, Umweltgruppen und anderen Interessenverbänden. Immerhin 1231 Teilnehmer erschienen tatsächlich am frühen Morgen in der Reykjavíker Sporthalle Laugardalshöll. Bei einer Gesamtbevölkerung von 320.000 ist das eine beachtliche Gruppe.
Ihre Aufgabe an diesem Tag: einmal über alles reden! Island steckt tief in der Krise, nun will sich das Volk überlegen, wie man wieder herauskommt, Ziele für den Neuanfang definieren und eine Zukunftsvision entwerfen. Die Ergebnisse sollen allen gehören. Bürgerinitiativen hatten sich das ausgedacht, und die Popsängerin Björk warb ebenso für das Treffen wie die isländische Umweltministerin.
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Unter den Teilnehmern sind fünf Minister. Als der links-grüne Finanzminister Steingrímur J. Sigfússon die Halle betritt, klopft ihm eine Organisatorin auf die Schulter und sagt: »Heute musst du nichts kontrollieren, heute kannst du ganz auf dein Herz hören!« Er lächelt kurz und geht dann an den ihm zugewiesenen Tisch. Natürlich ohne Leibwächter, so etwas hat man nicht in einem Staat, in dem selbst Minister geduzt werden. Viele Isländer schätzen Sigfússon; einige glauben sogar, er könnte der zukünftige Premierminister werden.
Es gibt keine langen Reden auf der Bühne, sondern nur die Gespräche an den 150 Tischen. Bis zu neunt sitzen sie dort jeweils und diskutieren zunächst über die großen Werte für das kleine Island. Damit alle gleichberechtigt zu Wort kommen, leitet jeweils eine weitere Person die Diskussion.
Über jedem Tisch baumelt an einem langen Band ein weißer Luftballon mit der Tischnummer, das Kordelende ist um einen Lavastein gewickelt. Drum herum breiten die Teilnehmer Zettel aus, auf denen sie ihre Ideen festhalten. »Familie« und »Nachhaltigkeit« liest man bei Tisch A41, an dem der Autor, Umweltaktivist und vierfache Vater Andri Snær Magnason seine Vorschläge einbringt. In der Gruppe des 36-Jährigen sind auch ein Arbeiter aus einer Aluminiumfabrik und ein Farmer. Eigentlich sollten die Teilnehmer nicht sagen, was sie beruflich machen, um Vorurteile zu vermeiden. Die meisten reden dann doch über ihre Arbeit – sofern sie ihren Job noch haben.
Am Ende des Vormittags werden alle Vorschläge von den Tischen eingesammelt und ausgewertet. Die wichtigsten Werte projizieren die Veranstalter auf Leinwände: Heiðarleiki – Ehrlichkeit, sieht man dort an erster Stelle. »Vor der Finanzkrise hätte das sicherlich nicht ganz oben gestanden«, sagt Magnason. Danach folgen die Werte Gleichheit, Respekt und Gerechtigkeit.
In den kurzen Pausen schlendern die Teilnehmer und freiwilligen Helfer durch die Reihen – viele kennen sich, sind miteinander verwandt. Eine kleine Gesellschaft wie Island hat Vorteile, denn die Vernetzung ist stärker. »Doch das kann auch zu einem korrupten System führen, in dem Verwandte oder Freunde bevorzugt werden«, sagt Magnason.
So war es bei den großen isländischen Banken, die im Oktober des vergangenen Jahres pleitegingen. Der Staat hatte sie nicht retten können: Ihre Schulden betrugen das Zehnfache des Staatshaushaltes. Heute steht Island finanziell schlechter da als manches Entwicklungsland. »Wir müssen die Risiken einer kleinen Gesellschaft vermeiden und sie in Vorteile umwandeln«, sagt der Finanzminister Sigfússon. »Jeder Einzelne ist wichtig.«
Nach ein paar Snacks und dem Auftritt eines Frauenchors, der etliche im Saal zu Tränen rührt, diskutieren die Teilnehmer am Nachmittag über neun Themen, die als wichtig definiert wurden: Dazu zählen Gleichheit und die Wirtschaft. »Wir überlegen, wie man neue Jobs schaffen kann«, sagt Eva Sigurbjörnsdóttir. Die 59-Jährige ist extra aus Djúpavík angereist, einem winzigen Ort in den abgelegenen Westfjorden: »Ich habe mich gefreut wie ein Kind an Weihnachten, dass ich ausgewählt wurde.« Wer keine Einladung bekam, konnte das Þjóðfundur von zu Hause aus live im Internet verfolgen.
Sigurbjörnsdóttir schätzt den Kampfgeist in ihrer Gruppe, Grundsätzliches anzupacken. Zugleich hofft sie darauf, ein recht konkretes Problem lösen zu können: In diesem Winter soll die Straße zu ihrem Dorf nicht mehr geräumt werden, wenn sie zugeschneit ist – weil es an Geld fehlt.
Das Treffen der Nation bringt wenig mehr als hehre Absichten hervor, und doch sind viele der Teilnehmer und Helfer begeistert. Sie haben Mut geschöpft. Beim Schlürfen der heißen Fleischsuppe am frühen Abend beschließen einige, sich wieder zu treffen, um in kleiner Runde weiterzudiskutieren.
»Die Nation gibt nicht auf, das spürt man«, sagt der Finanzminister. »Ich bin jetzt optimistischer, als ich es noch am Morgen war.«
Übrigens lautet das isländische Lebensmotto Þetta reddast: »Das wird schon irgendwie klappen.«

Das Treffen im Netz: http://thjodfundur2009.is

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