Zwischen introvertierten und extrovertierten Menschen ist äußerlich zunächst kein Unterschied zu erkennen. Betrachtet man jedoch, wie sie auf verschiedene Alltagssituationen reagieren, werden schnell Gegensätze sichtbar.
Letzten Monat berichtete beispielsweise Wissenschaftsautorin Melissa Dahl im Magazin „Science of us“ über die Erkenntnisse aus dem aktuellen Buch des Psychologen Brian Little über Persönlichkeitsforschung, Me, Myself, and Us: The Science of Personality and the Art of Well-Being (Ich, ich selbst und wir: die Erforschung der Persönlichkeit und die Kunst, sich wohlzufühlen). Darin wird unter anderem erklärt, warum introvertierte Menschen vor großen Besprechungen und anderen wichtigen Ereignissen besser auf Koffein verzichten sollten.
Little beruft sich auf die Extroversions-Theorie von Hans Eysenck und Forschungsergebnisse von William Revelle an der Northwestern University und erklärt so, dass die Reaktion von Introvertierten und Extrovertierten auf bestimmte Umgebungen naturgemäß unterschiedlich ausfällt. Wird das zentrale Nervensystem introvertierter Menschen durch Umgebungsreize oder einen Wirkstoff überstimuliert (und das geht schnell), fühlen sie sich überfordert und erschöpft, wo andere mit Aufregung und Begeisterung reagieren.
In ihrem TED-Talk von 2012 mit dem Titel „The Power of Introverts“ griff Autorin Susan Cain diesen Aspekt in ihrer Definition von Introvertiertheit noch einmal auf, um zu erklären dass es sich bei diesem Wesenszug nicht einfach um Schüchternheit handelt.
„Wer schüchtern ist, fürchtet die Beurteilung durch das soziale Umfeld“, so Cain. „Bei Introvertiertheit geht es eher darum, wie man auf Reize, auch soziale Reize, reagiert. Während extrovertierte Menschen viele Reize brauchen, fühlen sich introvertierte Menschen in einer ruhigen, entspannten Umgebung am lebendigsten, aufnahmefähigsten und leistungsfähigsten.“
Unser soziales Umfeld wird jedoch eindeutig eher dem ersten Typ gerecht – man denke nur an Großraumbüros, laute Bars und den gesamten Aufbau unseres Bildungssystems. Dabei ist etwa ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung eher introvertiert.
Auch wenn bei uns allen sowohl extrovertierte als auch introvertierte Tendenzen vorhanden sind – dem berühmten Schweizer Psychiater Carl Jung zufolge gibt es keine rein introvertierten oder rein extrovertierten Menschen – sind Introvertierte in einer reizüberfluteten Umgebung am verletzlichsten und zudem am leichtesten erkennbar.
Introvertierte Menschen reagieren aber nicht nur empfindlich auf Kaffee, sondern interagieren auch anders mit ihrer Umwelt als extrovertierte Menschen. Hier 10 Beispiele dafür:
Sie fühlen sich in Menschenmassen isoliert.
„Im 21. Jahrhundert haben wir ein neues Kulturzeitalter erreicht, das Historiker als Persönlichkeitskultur bezeichnen“, erklärte Cain in ihrem TED-Talk. „Wir haben uns von einer Agrarwirtschaft zur Geschäftswelt hin entwickelt. Die Menschen ziehen plötzlich aus den Dörfern in die Großstädte und arbeiten nun nicht mehr mit Leuten zusammen, die sie ein Leben lang gekannt haben, sondern müssen sich unter völlig Fremden bewähren.“
Die vielen Menschen, die oft laut und in großen Massen auftreten, führen bei Introvertierten schnell zu einer Reizüberflutung und berauben sie auch körperlich ihrer Energie. Sie fühlen sich durch ihre Umgebung eher isoliert als geschützt und wünschen sich inständig fort von den Menschenmassen.
Small-Talk ist anstrengend, bei tiefgründigen Gesprächen blühen Introvertierte dagegen auf.
Während viele Extrovertierte oberflächliche Begegnungen anregend finden, werden Introvertierte dadurch oft eingeschüchtert, gelangweilt oder ausgelaugt. Bei größeren Gesprächsrunden übernehmen Introvertierte oft die Rolle des stillen Zuhörers und ziehen sich nach Ende der Diskussion zurück. Autorin Sophia Dembling erklärt in ihrem Buch The Introvert’s Way: Living A Quiet Life In A Noisy World(Die introvertierte Art: Wie man in einer lauten Welt ein ruhiges Leben führt), dass es letztlich darum geht, ob und wie ein Mensch aus seinem Umfeld Energie bezieht. Introvertierte Menschen bevorzugen tiefgründige Gespräche, gern auch über philosophische Themen.
Sie sind erfolgreich auf der Bühne – aber vermeiden die Gespräche danach.
„Mindestens die Hälfte aller Menschen, die mit öffentlichen Auftritten ihr Geld verdienen, sind im Grunde introvertiert,“ erklärt Jennifer B. Kahnweiler, Ph.D, zertifizierte Rednerin, Business Coach und Autorin von Quiet Influence: The Introvert’s Guide to Making a Difference (Der leise Einfluss: Wie Introvertierte wirklich etwas bewegen können). Sie spielen einfach ihre Stärken au, indem sie sich intensiv vorbereiten. Tatsächlich sind sogar einige der erfolgreichsten Schauspieler und Politiker introvertiert. Der Auftritt auf der Bühne, in sicherer Entfernung zu den Menschen im Publikum, fällt ihnen sehr viel leichter als der anschließende Small-Talk.
Sie sind leicht ablenkbar, langweilen sich aber selten.
Wenn Sie die Aufmerksamkeitsspanne eines introvertierten Menschen drastisch verkürzen möchten, setzen Sie ihn einfach starken Reizen aus. Introvertierte reagieren besonders empfindlich auf ihre Umgebung und sind deshalb leicht ablenkbar oder sogar überfordert, wenn sie sich unter vielen Menschen oder in einem Großraumbüro befinden.
Wenn man sie allerdings in Ruhe lässt, können sie sich auch problemlos stundenlang einem Hobby widmen oder in einem Buch versinken. Sie brauchen Zeit für sich selbst, um ihre Batterien bei einer Tätigkeit, die ihnen Spaß macht, wieder aufzuladen.
Sie bevorzugen von Natur aus kreative, detailverliebte Berufe, in denen sie allein arbeiten können.
Introvertierte Menschen verbringen bevorzugt Zeit allein oder in kleinen Gruppen. Sie konzentrieren sich immer voll auf eine Sache und nehmen sich viel Zeit, wenn es darum geht, Probleme zu lösen oder Entscheidungen zu treffen. Deswegen sind sie in einem Arbeitsumfeld, das diese Arbeitsweise zulässt, besonders erfolgreich. In einigen Berufen, z. B. als Schriftsteller, Naturwissenschaftler oder Techniker (ohne Kundenkontakt) können introvertierte Menschen die intellektuelle Stimulation finden, nach der sie sich sehnen, ohne dabei in einem ablenkungsreichen Umfeld arbeiten zu müssen.
Wenn sie unter Menschen gehen, halten sie sich in der Nähe des Ausgangs auf.
Introvertierte Menschen fühlen sich in Menschenmengen nicht nur körperlich unwohl, sie wirken dem auch entgegen, indem sie sich nach Möglichkeit am Rand aufhalten. Egal, ob sie einen Platz in der Nähe des Ausgangs, ganz hinten im Konzertsaal oder einen Gangplatz im Flugzeug wählen – sie versuchen immer zu vermeiden, rundum von Menschen umgeben zu sein, so Dembling.
„Wir sitzen meist an Orten, wo wir bei Bedarf leicht wegkommen“, erklärte Dembling der HuffPost.
Sie denken erst und reden dann.
Dieser Angewohnheit haben Introvertierte ihren Ruf als gute Zuhörer zu verdanken. Für sie ist es völlig normal, den Mund erst nach gründlichem Nachdenken aufzumachen, anstatt laut zu denken, wie es Extrovertierte sehr oft tun. Sie wirken deswegen vielleicht ruhig und schüchtern, doch im Grunde bedeutet das einfach nur, dass ihre Worte sehr viel durchdachter – und mitunter wirkungsvoller – sind.
Sie passen sich nicht wie Extrovertierte der Stimmung ihrer Umgebung an.
Eine 2013 in der Fachzeitschrift „ Frontiers in Human Neuroscience“ veröffentlichte Studie ergab, dass das Belohnungszentrum im Gehirn Eindrücke bei introvertierten und extrovertierten Menschen ganz unterschiedlich verarbeitet. Während Extrovertierte Dopamin-Ausschüttungen in ihrem Umfeld durchaus wahrnehmen können, scheint das bei Introvertierten nicht der Fall zu sein. Tatsächlich verarbeiten von Natur aus introvertierte Menschen Belohnungen durch äußere Reize nicht so sehr wie extrovertierte.
Telefonieren bereitet ihnen körperliches Unbehagen.
Die meisten Introvertierten gehen oft nicht einmal dann ans Telefon, wenn Freunde anrufen. Der aufdringliche Klingelton zwingt sie, das aktuelle Projekt oder den aktuellen Gedanken aufzugeben und sich stattdessen auf etwas Unerwartetes zu konzentrieren. Dazu kommt, dass bei den meisten Telefonaten genau jener Small-Talk gefordert ist, den sie sonst zu vermeiden versuchen. Bei introvertierten Menschen ist deswegen oft die Mailbox an. So können sie zurückrufen, wenn sie sich fit und aufmerksam genug für das Gespräch fühlen.
Sie schalten ab, wenn sie allein sind.
„Einsamkeit ist wichtig. Für manche ist sie das Lebenselixier.“ – Susan Cain
Jeder Introvertierte kann nur ein bestimmtes Maß an Reizen ertragen. HuffPost-Bloggerin Kate Bartolotta hat das sehr schön beschrieben: „Stellen Sie sich vor, jedem von uns steht ein Glas voll Energie zur Verfügungen. Introvertierte Menschen brauchen für nahezu jede soziale Interaktion einen Schluck aus diesem Glas, während bei extrovertierten Menschen das Glas durch solche Kontakte wieder aufgefüllt wird. Den meisten von uns gefällt das. Wir teilen gern, und wir sind gern mit anderen Menschen zusammen. Aber wenn das Glas leer ist, brauchen wir einfach etwas Zeit, um wieder aufzutanken.
Dieser Artikel wurde am November 15, 2014 in Germany – The Huffington Post veröffentlicht, ursprünglich ist er bei der Huffington Post USA erschienen und wurde von Bettina Koch aus dem Englischen übersetzt.